Die flüchtige und höchst subjektive Gefühlswelt war JAHRHUNDERTELANG Gegenstand von Philosophen. Aber in den letzten 30 Jahren hat Antonio R. Damasio versucht zu zeigen, dass Gefühle entstehen, wenn das Gehirn Emotionen interpretiert, die selbst rein physische Signale des Körpers sind, die auf äußere Reize reagieren.Geboren 1944 in Lissabon, Portugal, ist Damasio seit 1986 Vorsitzender der neurologischen Abteilung der University of Iowa. Er und seine Frau, die Neurologin Hanna Damasio, haben eine der weltweit größten Datenbanken für Hirnverletzungen erstellt, die Hunderte von Studien zu Hirnläsionen und diagnostischen Bildern umfasst. So tiefgreifend einige der Schäden für Antonio Damasios Patienten sind, all dies beeinflusst sein Verständnis davon, wie Emotionen und Gefühle entstehen und wie sie psychische Erkrankungen beeinflussen können.
In den letzten Jahren hat sich Damasio zunehmend für die Rolle interessiert, die Emotionen in unseren Entscheidungsprozessen und in unserem Selbstbild spielen. In mehreren weit verbreiteten Büchern hat er gezeigt, wie bestimmte Gefühle Eckpfeiler unseres Überlebens sind. Und heute argumentiert er, dass unsere internen, emotionalen Regulierungsprozesse nicht nur unser Leben bewahren, sondern tatsächlich unsere größten kulturellen Errungenschaften prägen.
—Interview von Manuela Lenzen
VERSTAND: Professor Damasio, warum sind Sie so fasziniert von der Natur menschlicher Emotionen?
Antonio R. Damasio: Zuerst interessierte ich mich für alle Arten von neurologischen Verletzungen. Wenn ein Bereich des Gehirns seine Funktionsfähigkeit verlieren würde, könnte sich das Verhalten des Patienten entweder dramatisch oder nur subtil ändern. Eines Tages fragte ich mich, Was fehlt einem Menschen, der einen Intelligenztest mit Bravour bestehen kann, aber nicht einmal sein eigenes Leben organisieren kann? Solche Patienten können sich in völlig rationalen Argumenten behaupten, scheitern aber beispielsweise daran, eine Situation mit unnötigem Risiko zu vermeiden. Diese Art von Problemen tritt hauptsächlich nach einer Verletzung des Vorderhirns auf. Wie unsere Tests beweisen, ist das Ergebnis ein Mangel an normalen emotionalen Reaktionen. Mich fasziniert nach wie vor, dass Gefühle nicht nur die Schattenseite der Vernunft sind, sondern uns auch bei Entscheidungen helfen.
VERSTAND: Sie unterscheiden zwischen Gefühlen und Emotionen. Wie denn?
Damasio: In der Alltagssprache verwenden wir die Begriffe oft synonym. Dies zeigt, wie eng Emotionen mit Gefühlen verbunden sind. Für die Neurowissenschaften sind Emotionen jedoch mehr oder weniger die komplexen Reaktionen des Körpers auf bestimmte Reize. Wenn wir Angst vor etwas haben, beginnen unsere Herzen zu rasen, unser Mund wird trocken, unsere Haut wird blass und unsere Muskeln ziehen sich zusammen. Diese emotionale Reaktion erfolgt automatisch und unbewusst. Gefühle treten auf, nachdem wir uns in unserem Gehirn solcher physischen Veränderungen bewusst werden; Erst dann erleben wir das Gefühl der Angst.
MIND: Gefühle werden also durch Emotionen gebildet?
Damasio: Ja. Das Gehirn empfängt ständig Signale vom Körper und registriert, was in uns vor sich geht. Es verarbeitet die Signale dann in neuronalen Karten, die es dann in den sogenannten somatosensorischen Zentren zusammenstellt. Gefühle entstehen, wenn die Karten gelesen werden und es wird deutlich, dass emotionale Veränderungen aufgezeichnet wurden — sozusagen als Momentaufnahmen unseres physischen Zustands.
VERSTAND: Nach deiner Definition haben alle Gefühle ihren Ursprung im Physischen. Ist das wirklich der Fall?
Damasio: Interessanterweise resultieren nicht alle Gefühle aus der Reaktion des Körpers auf äußere Reize. Manchmal werden Veränderungen in den Gehirnkarten rein simuliert. Wenn wir zum Beispiel Sympathie für eine kranke Person empfinden, erschaffen wir den Schmerz dieser Person bis zu einem gewissen Grad innerlich neu. Auch die Abbildung unseres physischen Zustands ist nie ganz genau. Extremer Stress oder extreme Angst und sogar körperliche Schmerzen können abgetan werden; Das Gehirn ignoriert die physischen Signale, die den Schmerzreiz übertragen.GEIST: Die Unterscheidung zwischen Emotionen und Gefühlen erinnert an die Idee des Dualismus des Philosophen Ren Descartes aus dem 17.Jahrhundert – dass Körper und Geist autonome Systeme darstellen. Aber Sie lehnen diese Idee ab, wie Sie in Ihrem Buch Descartes ‚Fehler erklären. Wie sollten wir die Beziehung zwischen Geist und Körper sehen?
Damasio: Für mich sind Körper und Geist verschiedene Aspekte spezifischer biologischer Prozesse. Der Philosoph Baruch Spinoza unterstützte ähnliche Ansichten wie ich in Bezug auf die Frage nach Körper und Seele kurz nach Descartes ‚Zeit. In seiner Ethik schrieb er: „Der Gegenstand der Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, ist der Körper.“ Spinoza nahm damit die Erkenntnisse der modernen Neurobiologie vorweg.MIND: In Ihrem neuesten Buch Looking for Spinoza beschreiben Sie den Mann als „einen mentalen Immunologen, der einen Impfstoff entwickelt, der in der Lage ist, Antipassions-Antikörper zu erzeugen.“ Ist also nur ein Leben ohne Leidenschaften ein gutes Leben?
Damasio: Spinoza fasziniert mich nicht nur, weil er mit seinen Ideen zur Biologie seiner Zeit voraus war, sondern auch wegen der Schlussfolgerungen, die er aus diesen Ideen über die richtige Lebensweise und den Aufbau einer Gesellschaft zog. Spinoza war ein sehr lebensbejahender Denker. Er empfahl zum Beispiel, die negativen Emotionen wie Traurigkeit und Angst mit Freude zu kontrastieren. Er verstand diese Art von Praxis als einen Weg, um inneren Frieden und stoischen Gleichmut zu erreichen.
MIND: Was sind einige der anderen Funktionen, die Gefühle haben, zusätzlich zu uns helfen, Entscheidungen zu treffen?
Damasio: Mein Interesse reicht jetzt weit über die Frage der Entscheidungsfindung hinaus. In unserem Labor arbeiten wir intensiver mit sozialen Gefühlen wie Sympathie, Scham oder Stolz — sie bilden eine Grundlage für Moral. Neurobiologie hilft uns nicht nur, die menschliche Natur besser zu verstehen, sondern auch die Regeln der sozialen Interaktion. Doch um dies wirklich zu erfassen, brauchen wir einen breiteren Forschungsansatz: Neben den Kognitions- und Neurowissenschaften könnten viele Geisteswissenschaften einen Beitrag leisten, insbesondere Anthropologie und Soziologie.
MIND: Es scheint, dass deine Forschung sich auch auf die Definition von Bewusstsein erstreckt. Welche Rolle spielen Emotionen? Welche Rolle spielt der Körper?Damasio: Bewusstsein basiert, ähnlich wie unsere Gefühle, auf einer Repräsentation des Körpers und wie er sich verändert, wenn er auf bestimmte Reize reagiert. Selbstbild wäre ohne diese Darstellung undenkbar. Ich denke, der Mensch hat ein Selbstbild entwickelt, hauptsächlich um einen homöostatischen Organismus zu etablieren. Das Gehirn benötigt ständig aktuelle Informationen über den Zustand des Körpers, um alle Prozesse zu regulieren, die es am Leben erhalten. Nur so kann ein Organismus in einer sich ständig verändernden Umwelt überleben. Emotionen allein — ohne bewusste Gefühle – würden nicht ausreichen. Erwachsene wären genauso hilflos wie Babys, wenn sie plötzlich ihr Selbstbild verlieren würden.
GEIST: Tiere müssen also auch Bewusstsein besitzen?Damasio: Ich glaube, dass Tiere ein sehr grundlegendes Selbstverständnis entwickeln — was ich als „Kernselbst“ bezeichne.“ Aber ein breiteres Selbst zu haben, wie wir es tun, erfordert ein autobiografisches Gedächtnis.GEIST: Glauben Sie, dass wir eines Tages in der Lage sein werden, künstliches Bewusstsein und Gefühle zu erschaffen?
Damasio: Ein Organismus kann Gefühle nur dann besitzen, wenn er eine Repräsentation der Körperfunktionen und der damit verbundenen Veränderungen im Gehirn erzeugen kann. Auf diese Weise kann der Organismus sie wahrnehmen. Ohne diesen Mechanismus gäbe es kein Bewusstsein. Es ist unklar, ob sich dies jemals in einer Maschine entwickeln könnte oder ob wir wirklich Maschinen mit Gefühlen wollen.
MIND: Wird die Erforschung von Emotionen zu besseren Therapieformen für psychiatrische Erkrankungen führen?
Damasio: Ohne Frage. Emotionale Störungen bilden den Kern der meisten psychischen Erkrankungen — ein gutes Beispiel dafür ist die Depression. Spezifische Behandlungen werden in Zukunft entwickelt, wie neue Arten von Medikamenten, die auf verschiedene zelluläre und molekulare Systeme abzielen. Auch andere Therapieformen werden davon profitieren, von der traditionellen Psychotherapie bis zur sozialen Intervention.